Sebastian Haffner (1907–1999)
Bei Wikipedia:- Gedenktafel via/bei Wikimedia
- Sebastian Haffner, Die sieben Totsünden des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg
Bergisch Gladbach 1982 (1964) - Sebastian Haffner1918/19 Eine deutsche Revolution
Bergisch Gladbach 1982 (1964)
"Lernen, endlich lernen!"
Aber der Krieg und die Niederlage waren nicht "Schicksal". Sie waren das Ergebnis falscher Einschätzungen, falscher Entscheidungen und falscher Maßnahmen deutscher Regierungen, die meist die Zustimmung der deutschen Öffentlichkeit hatten [...] Wir wollen nicht richten, wir wollen lernen – aus harten, schweren, teuer bezahlten Erfahrungen endlich lernen. Wer das will, darf den Vorwurf nicht scheuen, dass man natürlich klüger ist, wenn man vom Rathause kommt. Wäre man es doch nur! Nachträgliche Weisheit mag billig sein, aber besser als das Verharren im Irrtum ist sie allemal.
Haffner Seite 8f
"Aber die anderen waren auch nicht besser und haben auch ihre Fehler gemacht!" Wahrscheinlich, aber für den, der aus seinem eigenen Unglück lernen will, ziemlich uninteressant. Die Deutschen werden kaum je in die Lage kommen, die damaligen Fehler Englands und Risslands, Frankreichs oder des alten Österreichs zu wiederholen. Es sind ihre eigenen Fehler, die ihnen nachhängen und für die sie sich interessieren sollten, um sie in Gegegnwart und Zukunft zu vermeiden.
Haffner Seite 9
Freilich wollten auch die Nachfolger Bismarcks nicht, wie später Hitler, Krieg um des Krieges willen. Aber sie wollten jetzt Dinge, die ohne Krieg nicht zu haben waren.
Haffner Seite 12
Das war kein Verbrechen; das war nach damaligen Begriffen ihr gutes Recht. Aber es war ein furchtbarer Fehler, und er war die Ursache des Ersten Weltkriegs.
Haffner Seite 13
Jede Sünde beginnt mit einer Gedankensünde, und jeder Fehler beginnt als Denkfehler.
Haffner Seite 13
"Die Mehrheit des Kabinetts war für den Frieden. Mindestens drei Viertel seiner Mitglieder waren entschlossen, in keinen europäischen Streit heieingezogen werden, ausser wenn England direkt angegriffen würde, was nicht gerade wahrscheinlich war. Sie hofften, erstens, dass es zwischen Österreich und Serbien nicht zum Äussersten kommen würde; zweitens, wenn aber doch, dass Russland nicht intervenieren würde; drittens, wenn Russland angriffe, Deutschland sich zurüchhalten würde; viertens, wenn Deutschland daraufdoch gegen Russland losschlug, dasss jedenfalls Frankreich und Deutschland kampflos neutralisieren würden; wenn aber Deutschland Frankreich doch angreifen sollte, dann, so glaubten sie, jedenfalls nicht via Belgien; und wenn das, dann wenigstens ohne belgischen Widerstand. ... Hier waren also sechs oser sieben Positionen. Um jede konnte man streiten, und zu ihrer Widerlegung gab es keinen Beweis - ausser dem, den die Ereignisse liefern sollten."
Haffner Seite 30f
Tatsächlich waren ja im kaiserlichen Deutschland Regierung und Generalstab streng getrennt, beide, ohne verfassungsmässe Querverbindung miteinander, unmittelbar dem Kaiser unterstellt. Das war zweifellos ein Konstruktionsfehler der deutschen Verfassung. Aber er errklärt nicht alles, und er sntschuldigt nichts. Auch Bismarck hatte unter der elbstherrlichkeit der militärischen "Halbgötter" 18666 und 1870/71 schwer zu leiden. gehabt und hatte bis zum Nervenzusammenbruch und bis zur psyischen Selstmorddrohung dagegen ankämpfen müssen, dass sie ihm immer wieder sein politisches Konzept verbargen. Aber das hatte er eben getan. Bethmann-Hollweg fehlte zu einem solchen Kampf, den er in diesem Fall schon vor Kriegsausbruch hätte führen müssen, entweder die Charakterstärke oder die Einsicht. Darin lag sein Versagen. Und das Resultat war der totale Bankrott seiner an sich gar nicht so unfundierten Kriegskonzelption, vom ersten Kriegstag an.
Haffner Seite 37
Der Schlieffenplan war ein typisches Produkt militärischen Jugendstils, kopflastig und dünnstengelig. Ob er auch militärisch geistreich.ungesund war, darüber lässt sich streiten. Der vernichtende Einwand gegen ihn ist politisch. Es war ein Plan, der um eines ungewissen Erfolges willen einenein sicheres Übel in Kauf nahm. Er war ein Plan, der um eines ungewissen Erfolges willen ein sicheres Übel in Kauf nahm. Um eine Grossmacht, Frankreich, vielleicht aus dem Felde zu schlagen, zog er eine andere, noch stärkere, England, mit Sicherheit als Feind in den Krieg hinein.
Haffner Seite 35
Entscheidende Fehler im gesamtstrategischen Konzept sind durch noch so glänzende Detailleistungen im operativen Bereich nicht wieder einzuholen.
Haffner Seite 56
Ihre Argumente waren tatsächlich bestechend. Noch heute klingen sie bestechend, wen man vergisst, was man seither weiss; und man mag daraus lernen, wie einleuchtend sich sich auch für die grössten und katastrophalen Fehler werben lässt.
Haffner Seite 60
Die Geschichte des U-Bootkrieges ist, auf beiden Seiten, eine Blamage von Fachleuten. Weder die deutschen noch die britischen Marinefachleute hatten dieses einfache, und wie sich erweis, durchschlagende Gegenmittel [das Geleizugssystem] vorher ernsthaft in Betracht gezogen, und zwar aus dem instinktivem Gedanken heraus, dass Geleitzüge ja noch massiertere Ziele bieten würden als weit verstreut fahrende Schiffe. Was sie dabei übersahen, war – seltsam für Seeleute – die Ausdehnung des Seekriegsschauplatzes. In den Weiten der Meere bilden Geleitzüge wie einzelne Schiffe nur einen winzigen Punkt. Aber es gab nun plötzlich viel weniger solcher Punkte, ...
Haffner Seite 33
Es kam eben auf den Standpunkt an: ob man die Dinge den Tatsachen oder von den eigenen Wunsch- und Zielvorstellungen her ansah. Von den Tatsachen aus gesehen wäre ein Status-quo-Friede ein Geschenk des Himmels für Deutschland gewesen. Von den deutschen Wunsch- und Zielvorstellungen aus gesehen war es so gut wie eine Niederlage. Deutschland blickte nicht auf die Tatsachen, sondern auf seine Wunsch- und Zielvorstellungen, wie sie das seither ununterbrochen getan hat und auch heute noch tut. Es gibt einen Namen für diese Art Geisteskrankheit: Realitätsverlust.
Haffner Seite 45
Es war ein rein psychologisches Hindernis in der Brust der Verantwortlichen, der ihnen nicht zur Ehre gereicht: eine innere Unfähigkeit, sich die Lage einzugestehen und das Scheitern der eigenen Pläne vor sich zuzugeben. Wie leichter, einfach weiterzumachen, als ob nichts geschehen wäre! Noch war ja sozusagen nichts geschehen. Man wird an die Geschichte vom Dachdecker erinnert, der vom Dach eines Wolkenkratzers herunterfällt und seinen Kollegen auf halber Höhe zuruft: "Bis jetzt geht es mir noch ausgezeichnet!"
Haffner Seite 104
Noch einmal: Verbrechen und Grausamkeiten haben alle Völker auf dem Kerbholz, und obwohl die Deutschen sich gerade in diesem Jahrhundert in dieser Hinsicht traurig hervorgetan haben, stehen sie als Sünder gewiss nicht allein. Worin sie so ziemlich allein stehen, ist die Naivität, mit der sie sich selbst freisprechen und von einer herausgeforderten, schwer misshandelten und schliesslich siegreichen Welt völlige Folgenlosigkeit ihrer Taten als ihr gutes Recht beanspruchen. Zu dieser Naivität gehört übrigens auch, dass sie offfenbar der Meinung sind, diese Taten würden nicht be,erkt. solange sie nur selber nicht darüber reden; und jeden, der das eigene Nest zu reinigen versucht, gewohnhwitsmässig beschuldigen, es zu beschmutzen.
Haffner Seite 130
Zu dieser Naivität gehört übrigens auch, dass [die Deutschen] offfenbar der Meinung sind, diese Taten würden nicht be,erkt. solange sie nur selber nicht darüber reden; und jeden, der das eigene Nest zu reinigen versucht, gewohnhwitsmässig beschuldigen, es zu beschmutzen.
Haffner Seite 130
Wieder und wieder Fehlentscheidungen ins Blaue hinein, ohne Erforschung und Analyse der Lage, ohne vergleichende Prüfung und Abwägung von Alternativen, ohne Beziehung zu den tatsächlich jeweils gestellten Aufgaben und Problemen; wieder und wieder eine Hans-guck-in-die-Luft-Politik, die die Stufe verfehlt, die Treppe herunterfällt und das Bein bricht, wähtend sie den Kopf in den Wolken hat.
Haffner Seite 133
Für die Unfähigkeit, die Rückwirkung eigener Handlungen und Haltung auf fie Betroffenen vorauszuberechnen und zu veranschlagen, bietet die Politik des Deutschen Reiches wie der Bundesrepublik zu viele und zu krasse Beispiele, als das es sich lohnte, sie im Einzelnen aufzuzählen.
Haffner Seite 137
Aber über die grundsätzlich falsche Einstellung, die sich aus der deutschen Unfähigkeit zur Distanz, also aus der Weigerung ergibt, die klare Unterscheidung und die richtige Beziehung zwischen selbst und Aussen anzuerkennen, muss noch ein Wort gesagt werden.
Haffner Seite 137
Für die Unfähigkeit, die Rückwirkung eigener und Haltungen auf die Betroffenen vorauszuberechnen und zu veranschlagen, bietet die Politik des Deutschen Reiches wie der Bundesrepublik zu viele und zu krasse Beispiele, als das es sich lohnte, sie im Einzelnen aufzuzählen.
Haffner Seite 137
Aber über die grundsätzlich falsche Einstellung, die sich aus der deutschen Unfähigkeit zur Distanz, also aus der Weigerung ergibt, die klare Unterscheidung und die richtige Beziehung zwischen Selbst und Aussen anzuerkennen, muss noch ein Wort gesagt werden.
Haffner Seite 137
Die bundesrepublikanische Politik ist insofern ein Negativabdruck der kaiserlichen. Wenn das Kaiserreich Belgier und Polen, Nalten, Finnen und Ukrainer, ja schliesslich Turkmenen und Transkaukasier zu ungefragten Gliedstaten eines deutschen Grossreichs machen wollte, so sucht die Bundesrepublik verzweifelt nach einem amerikanisch-atlantischen oder französisch-europäischen Grossreich, dessen Gliedstaat sie ihrerseits werden könnte. Eine bescheidenwürdige, verantwortliche Eigenexistenz, die andere möglichst zufrieden lässt, war und ist beiden völlig uninteressant,; und doch ist ist es genau dies, was die Aussenwelt, jede Aussenwelt, von Deitschland, jedem Deutschland, wie von jedem anderen erwartet.
Haffner Seite 138
Die Vergeltung
Es gibt eine Ballade der Anette von Droste-Hülshoff, die Eberts Schuld aufs genaueste vorzeichnet.
Jemand hat bei einem Schiffbruch einen Mitpassagier ermordet, indem er ihn von der rettenden Planke gestossen hat. Zufällig hat sich ihm das Fabrikationszeichen der Planke eingeprägt: "Batavia 510".
Der Mord wird nie ruchbar.
Aber als der Mörder landet, wird er irrtümlich für einen lange gesuchten Seeräuber gehalten unschuldig zum Tode verurteilt unf zur Hinrichtung geführt.Und als er in des Hohnes Stolze
will starren nach der Äther Höhn'
da sieht er in des Galgens Holze
Batavia 510.Das Gedicht heisst: Die Vergeltung
Sebastian Haffner 1918/19
Es ist typisch für die entmutigende Oberflächlichkeit des heutigen Denkens, dass das Wort "Grösse", das eine Quantiität und nicht eine Qualität bezeichnet, als ein Ausdruck der Anekennung, wie zum Beispiel "Schönheit", "Güte", "Weisheit" verwendet wird. Alles, was "gross" ist, wid also fast automatisch als schön und gut angesehen. Aber das muss nicht so sein. So sind zum Beispiel die von den Nationalsozialisten erbauten Stadien und Kongresshallen ungeheuer gross und ungeheuer scheusslich. Ebenso ist Hitler ingeheuer "gross" und ungeheuer trivial. Es ist an der Zeit, dass wir diese Ausdrücke überdenken und nicht vor der Grösse in Ehrfurcht zu erstarren, als ob sie das A und das O wäre und ein grösserer Verbrecher nicht eine zehnmal höhere Strafe verdiente wie ein kleiner.
Sebastian Haffner Germany: Jekyll & Hyde (1940) Seite 17f
Sie [die Deutschen] haben völlig vergessen, was ihre Philosophen einmal wussten, nämlich, dass jede Handlung ausser der beabsichtigten Tausende andere weirreichende unbeabsichtigte Wirkungen erzeugt, weshalb es in neun von zehn Fällen klüger und besser ist, inaktiv zu bleiben und nicht "energisch zu handeln". Es interessiert sie auch nicht, dass grosse Reiche, wie die frühere Habsburger Monarchie oder das gegenwärtige Britische Empite und generell die Demokratien mit einer Menge Gedukd, Toleranz, Diskussion, Rücksichtnahme, absichtlicher Nichteinmischung, abwartender Bedächtigkeit und Umsicht, kurzum mit allem, was die Nazis als "Schlendrian" bezeichnen, meist erfolgreich geleitet wurden und werden.
Sebastian Haffner Germany: Jekyll & Hyde (1940) Seite 50f